Rezensionen zu ‚Stille‘

Brodeln über den Wolken

Tim Parks hat mit „Stille“ einen überzeugenden Aussteiger-Roman geschrieben.

Die Literarische Welt, 9.9.2006

Von Hajo Steinert

Er ist Englands Top-Femsehjournalist, Mitte fünfzig, Familenvater und geht seiner Lebensgefährtin tüchtig fremd. Am liebsten mit jüngeren Frauen. Erstaunlich, seine erotischen Erfolge. Denn Harold Cleaver, nicht nur ein Arbeitstier, sondern auch ein Genussmensch, ist sogar nach eigenem Ermessen zu fett. Der schwächelnde und schwitzende Bonvivant fürchtet die Impotenz und, mindestens so schlimm, einen Herzinfarkt.
Von einem Tag auf den anderen hat er genug von Völlerei und Vielweiberei und beschließt einen radikalen Rückzug. Endlich nicht mehr im Leben anderer herumpulen, endlich keine Auftritte mehr, raus aus dem Rampenlicht, nie mehr ins Studio, nie mehr in fremde Betten, nach innen geht der geheimnisvolle Weg. Cleaver kauft sich – gerade hat er noch ein sensationell erfolgreiches Interview mit dem amerikanischen Präsidenten geführt -, ohne sich bei Freunden, Familie und Kollegen zu verabschieden, ein Flugticket nach Mailand. Dort angekommen, nimmt er einen Bummelzug und landet schließlich mit dem Taxi in einem Alpenkaff in Südtirol, wo er sich ganz oben auf seinem künftigen Zauberberg in einer mit Ofen und fließend kalt Wasser ausgestatteten Hütte einmietet und nur noch eines tun will: nachdenken. Sein Handy bleibt außer Betrieb. Keine E-Mail stört seine Stille, wie sinnigerweise der deutsche Titel des Romans lautet, der zwölfte des englischen Autors. Aber im Inneren von Harold Cleaver brodelt es.
Hatten wir das nicht alles schon einmal? Schon wieder einer dieser typischen Aussteiger im besten Krisenalter, die sich Saison für Saison vornehmlich in der englischsprachigen Literatur zu Wort melden? Schon wieder eine dieser irgendwie von Yoga und Buddha angefeuerten Seelenarbeiten eines müden Metropolenmenschen? Das Protokoll eines Hypochonders, der viel zu spät erkennt, dass das Leben kurz und einzigartig ist und von nun an alles anders machen will als bisher?
Schon nach wenigen Seiten wirft der argwöhnische Leser seine Vorurteile über Bord. Denn der englische Schriftsteller Tim Parks, 52 Jahre alt, Universitätslehrer in Verona, ist ein viel zu kluger Kopf, als dass er auf Klischees hereinfallen würde. Er benutzt die Versatzstücke eines Männer-Romans à la Philip Roth („er fand es furchtbar, wenn sie nach dem Sex sofort ins Bad rannte“), mischt sie mit Motiven, die wir aus den frühen, garstigen Bergromanen eines Thomas Bernhard kennen – und macht daraus etwas ganz Neues. Selbst der Plumpsklo-Realismus eines Franz Innerhofer weht aus dem Jenseits herüber. Und über allem wacht Gottvater Thomas Mann.
Parks‘ Geschichte wirkt in einem Maß konstruiert, das es dem Leser einerseits erlaubt, seine Interpretationslust unbefangen sowohl auf die inhaltliche Seite des Erzählten zu lenken als auch auf die raffinierte Erzählweise des Romans. Er gehört zu den besten, die Tim Parks bisher geschrieben hat. „Stille“ zeugt von einem ganz unterholzigen Humor: trocken, hinterhältig. Aber niemals verschafft sich der Autor mit der Brechstange freie Bahn. Er macht
sich über den Trend in der mit persönlichen Identitätskrisen prallvollen Gegenwartsliteratur lustig und bereichert sie auf sehr originelle Weise mit einer neuen Folge.
Der Autor lässt seinen grübelnden, still vor sich hin plappernden, erbarmungswürdig klagenden, scharf anklagenden, weinerlichen, kampflustigen, murmelnden, flüsternden, schreienden, schwadronierenden Helden von sich selbst reden, immerzu nur von sich selbst. Sogar dann, wenn er an andere denkt, wie an seine über alles geliebte Tochter Angela, die 1990 bei einem Verkehrsunfall gestorben ist. Die Erinnerungen an sie gehören zu den zärtlichsten Stellen des Romans.
Tim Parks lässt seinen traurig-komischen, schroffen, zerbrechlichen Helden sich im Kreis drehen. Erst ganz schnell, dann immer langsamer, je kälter es da oben auf dem Berg wird. Er zeichnet ein in sich stimmiges, faszinierendes Porträt des Phänotyps unserer Zeit. Harold Cleaver ist ein fürchterlicher Egoist und doch keineswegs unsympathisch. Das Verhältnis des Autors zu seiner Hauptfigur ist von durchaus freundschaftlichen Gefühlen geprägt. Die Figur braucht ihren Erschaffer vor allem dann, wenn Harold Cleavers Sohn Alex die Bühne betritt. Alex Cleaver, der Zwillingsbruder der verstorbenen Angela, hat zu allem Unglück einen schonungslos biografischen Roman über den berühmten Vater geschrieben. Im Schatten des Allmächtigen steht sogar auf der Shortlist zum Booker-Prize. Und er steckt im spärlichen Gepäck des Vaters: die einzige Lektüre oben in der Hütte.

Das Porträt des alternden Journalisten als geborener Egoist bestimmt die zweite Erzählebene des Romans. Sie steht in einem deutlich ironischen Verhältnis zum Monolog des sprachmächtigen und selbstgefälligen Vaters. Traumwandlerisch sicher, wie der Autor beide Erzählebenen ineinander gleiten lässt oder abrupt miteinander konfrontiert. Die Blende ist genauso seine Sache wie der harte Schnitt. Der Roman im Roman – in Stille haftet dieser durchaus nicht ungebräuchlichen Erzähltechnik nichts Aufgesetztes an. Diese zweite Erzählebene lässt dem Autor alle Freiheiten, seine Lust an Satire (auch über den Literaturbetrieb), Spott und Karikatur auszuleben. Vor allem aber trägt sie zu einem verstörend differenzierten Seelenporträt des Berserkers bei. Allein die Form des Monologs hätte dies nicht geschafft.
Kabinettstückchen gelingen Tim Parks, wenn er seinen Möchtegern-Einsiedler in den täglichen Kampf mit den Naturgewalten treten lässt. Für Harold Cleaver gestaltet sich das Leben oben auf dem Berg zu einem reinen Überlebenstraining: Immerzu gibt es etwas zu reparieren, zu stopfen, zu hämmern und hacken. Trotz aller Ablenkung durch die alpinen Unbilden der Natur gelingt es Cleaver auch über den Wolken, seinen ureigentlichen Talenten nachzugehen. Die erotische Vermieterin treibt ihn zu einer ungewohnt heimlichen Schürzenjägerei an. Die Geschichte seines Vormieters, eines alten Nazis, lässt ihn nicht ruhen. Auch in Tirol findet der Joumalist Menschen, deren Geheimnisse zu ergründen sich lohnt. Wenn sich am Ende des Romans, der auch als anrührender Vater-Sohn-Roman gelesen werden kann, Harold und Alex einander leibhaftig gegenüber stehen, kommt es zu einem überraschenden Showdown. Wie alles in diesem Roman perfekt vom Autor inszeniert – und hervorragend von Ulrike Becker übertragen.

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