Rezensionen zu ‚Die Kunst stillzusitzen‘

Die Befreiung aus dem Gefängnis

Über Jahre litt Tim Parks, der Schriftsteller, an mysteriösen, schwer erträglichen Schmerzen. Er besiegte sie, indem er sein Leben änderte.

Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 29.8.2010

Von Jörg Thomann

Die Prostata ist eigentlich so groß wie ein kleiner Apfel. Wird der Mann aber älter, dann wächst sie, wird faseriger und drückt auf die Harnröhre. Um diese Beschwerden zu lindem, kann man die Prostata von innen mit einem Laser weiten. Zugleich empfiehlt es sich, ein Stückchen des Schließmuskels am Blasenboden wegzubrennen, damit er sich richtig öffnet. Nach so einer Operation freilich kann es passieren, dass bei einem Orgasmus das Sperma nicht mehr nach oben durch den Perus austritt, sondern nach oben in die Blase schießt.
Die sensibelsten Leser haben sich an dieser Stelle womöglich schon verabschiedet: Lesen möchte man so etwas eigentlich nicht, schon gar nicht als Mann. Und auch Tim Parks, dem Schriftsteller, war es nicht wohl in seiner Haut, als ein befreundeter Chirurg ihm in ebenjenen Worten erklärte, was bei einer transurethralen Resektion der Prostata geschieht. Was also mit seiner eigenen Prostata geschehen würde, wenn er sich zu jenem Eingriff entschlösse, der sie lindern könnte, all die schwer erträglichen Schmerzen, an denen er seit langem litt – „eine unterschwellige Spanund im Bauch, ein scharfes Stechen im Beckenboden, elektrische Schläge entlang der Innenseite der Oberschenkel, Kreuzschmerzen, ein Ziepen und Zwicken im Penis“. Lindern könnte, wohlgemerkt.
Tim Parks hat sich nicht operieren lassen. Viereinhalb Jahre sind vergangen seit jenem Gespräch mit dem Chirurgen, das erst der Beginn sein sollte einer Odyssee auf der Suche nach Genesung. An diesem Sommertag hat sich Parks, der seit drei Jahrzehnten in Italien lebt, im Büro seiner Münchner Verlegerin eingefunden, um über sein neues Buch zu sprechen, und jene kurze Frage, die meist achtlos in den Raum geworfen wird, um ebenso knapp retourniert zu werden, hat in seinem Fall alles Floskelhafte verloren: Mister Parks, wie geht es Ihnen? „Es geht mir gut“, sagt Parks und lächelt. Seine Schmerzen sind weg. Manchmal, da spürt er noch etwas, das er die „Schatten von Schmerzen“ nennt, aber es verschwindet rasch. „Sobald ich gelernt hatte, wie ich damit umgehen muss, war es kein Problem mehr. Es hörte auf, interessant zu sein.“ Das klingt so leicht, doch es war ein langer, steiniger Weg für Tim Parks. Wie steinig, das lässt sich nachlesen in seinem Buch, das Die Kunst stillzusitzen heißt, Untertitel: Ein Skeptiker auf der Suche nach Gesundheit und Heilung.
Auf dieser Reise begleitet der Leser Parks unter anderem zu einer Zytoskopie – einer B lasenspiegelung. Der Patient Parks nimmt dabei mit entblößtem Unterkörper auf einer Art Gebärstuhl Platz und wird mit Gurten und Schnallen fixiert. Seine Füße stecken in Stiefelgestellen, und mit weit auseinandergespreizten Beinen wartet er darauf, dass ihm etwas Langes, Metallisches in die Harnröhre geschoben wird: Parks lässt es sich nicht nehmen, in seinem Buch die Sache mit Zeichnungen zu demonstrieren. In solchen Momenten gibt der Mensch nicht nur die Kontrolle, sondern auch einen Teil seiner Würde ab. Von Schriftstellern sagt man. sie ließen in ihren Werken ihr Publikum häufig in ihr Innerstes blicken, aber kaum einer geht so weit wie Parks, der uns nicht nur seine Seele öffnet, sondern über seine Prostata, seine Blase, seinen Darm schreibt. Das seien, sagt er, einerseits natürlich furchtbare Themen, andererseits sei es aber seltsam, wie sehr gerade sie tabuisiert würden; „Es ist leichter, über Folter im Irak zu sprechen als darüber. Und es ist sicher leichter für die Leute, Bücher über Serienkiller zu lesen, die Frauenkörper aufschlitzen, als über einen Männerkörper, dem ein Objekt in den Penis geschoben wird.“
Nicht darüber zu reden aber, sagt Tim Parks heute, „war fast schon ein Teil der Krankheit“ Daher hat er aufgeschrieben, was sie mit ihm gemacht hat. Wie die Beschwerden anfingen, mit Mitte, Ende vierzig. Wie die Unterleibsschmerzen so heftig wurden, dass er am Computer nur noch im stehen schrieb und sich von Freunden und Bekannten zurückzog, weil Geselligkeit meist Sitzen bedeutet. Wie er nachts immer häufiger Wasser lassen musste, viermal, fünfmal, bald sogar neunmal, so dass die Nächte praktisch schlaflos waren. Wie er auf Flugreisen drei verschiedene Bordtoiletten benutzte, damit niemand merkte, wie oft er ging. Wie er den Kaffee wegließ und den Alkohol, wie er sich in Sport stürzte, ohne Zeichen der Besserung. Und wie er, der mit einer Italienerin verheiratet und Vater dreier Kinder ist, eines Tages das Undenkbare dachte: „Wie viel leichter wäre das alles, (…) wenn ich alleine lebte.“
Die Kunst stillzusitzen ist jedoch keineswegs die bittere Klageschrift eines in Selbstmitleid versinkenden Mannes. Zum einen, weil Parks auch bei seiner eigenen Leidensgeschichte sich den schwarzen Humor nicht verkneift, welcher seine besten Bücher auszeichnet. Zum Zweiten, weil er es nicht bei der Selbstbespiegelung belässt, sondern zum Forscher in eigener Sache wird, der mit intellektueller Leidenschaft über Krankheit in der Kunst sinniert, zum Beispiel über berühmte Kollegen von Thomas Bernhard über Thomas Hardy bis Kafka, deren Werk untrennbar mit ihrer Krankengeschichte verbunden ist. Zum Dritten, und das ist der entscheidende Punkt, weil Tim Parks dann doch noch einen Ausweg gefunden hat – einen ganz anderen freilich, als er es sich hätte vorstellen können.
Nachdem kein Schulmediziner ihm eine klare Diagnose liefern konnte und Parks bereits solche Menschen zu beneiden begann, die „eindeutig krank“ waren, öffnete er, der Skeptiker, sich alternativen Heilmethoden. „A Headache in the Pelvis“, zu Deutsch „Kopfschmerzen im Becken“: Ein Buch mit eigenartigem Titel, von Parks im Internet entdeckt, brachte für ihn die Wende. Statt langwieriger Therapien oder Eingriffen mit Ungewissem Ausgang warb es für Entspannung- und Massagetechniken. Parks ließ sich darauf ein und machte erstmals die Erfahrung, dass sich die Schmerzen lenken ließen, abschalten, wenn auch zunächst nur für kurze Zeit. Beflügelt vom Erfolg, wagte er sich weiter vor, befasste sich mit Shiatsu und besuchte einen Meditationskurs in der Toskana. Sein anfängliches Befremden ob der gewöhnungsbedürftigen Szenerie – zehn Tage Schweigen und Entspannen mit dem alten amerikanischen Guru John Coleman – beschreibt Parks wiederum mit beißendem Witz: „Ich stellte mir das erste große Massaker bei einem Meditationskurs vor.“ Auch hier aber wird er bald überrascht, ja überwältigt von den gewaltigen Wellen, die seinen Körper von Kopf bis Fuß durchfluten. „Es ist möglich, sich diesen Dingen zu nähern, ohne gleich alles glauben zu müssen“, sagt der bekehrte Skeptiker Parks im Münchner Verlagshaus. Er ist guter Laune, trägt sommerlich helle Farben und kurzgeschorenes Haar auf dem kantigen Kopf; manchmal reißt er die blauen Augen weit auf, manchmal durchziehen zahllose Lachfältchen das ganze Gesicht, wenn er mit akzentuierter Stimme, die den Universitätslehrer verrät, über sein verändertes Leben spricht. Er hat nicht meditiert am heutigen Tag, weil er früh von London einflog, normalerweise aber widmet er der Meditation nun die erste Stunde des Morgens. „Ich finde es immer noch aufregend“, sagt er, „jetzt sogar noch aufregender als zur Zeit, als ich das Buch schrieb-“ Medikamente nimmt er inzwischen keine mehr, von einer gelegentlichen Kopfschmerztablette abgesehen, er will aber nicht als Missionar auftreten: „Ich sage niemandem, was er tun soll. Wenn du ein Antibiotikum brauchst, dann nimm es. Aber stürz dich nicht drauf, wenn es nicht nötig ist.“ Die meisten Krankheiten nämlich, davon ist Parks mittlerweile überzeugt, „sind eng mit der Art und Weise verbunden, wie wir heute leben“.
Mit „wir“ meint Parks nicht zuletzt sich selbst: „Bei allem, was ich tat“, konstatiert er, „strengte ich mich mehr an als nötig.“ Als er im Jahr 1997 mit seinem Roman „Europa“ für den wichtigsten Literaturpreis Großbritanniens nominiert wurde, den Booker-Preis, da kreisten seine Gedanken über Wochen um die Dankesrede -die er dann, weil er nicht gewann, gar nicht halten musste. Beim Joggen bemühte er sich, ein schnelles Tempo zu halten, und „kam nach Hause mit dem Gefühl, eine Pflicht erfüllt zu haben“. Diese körperfeindliche Geisteshaltung sieht Parks als Erbe seines Elternhauses. Die Eltern waren bibeltreue Christen, Mitglieder der charismatischen Bewegung, die sich daheim schon mal an einer dilettantischen Teufelsaustreibung versuchten, der Körper galt als „notwendiges Übel auf dem Weg zum Erfolg und ins Paradies“. Parks‘ Vater war Pfarrer, ein rastloser und unzufriedener Mensch; er starb mit 59 an Krebs.

Wie sich der Sohn fühlte, das lässt sich kaum verschlüsselt seinen jüngeren Romanen entnehmen, deren Protagonisten auffallend häufig malade sind: Albert James etwa aus Träume von Flüssen und Meeren (2008) litt an Prostatakrebs, sein Sohn an chronischen Verdauungsproblemen. „Meine Figuren wurden immer manischer und selbstbezogener“, gibt Parks zu. Was aber war nun mit ihm selbst, war er überhaupt krank? Parks selbst nennt es keine Krankheit, sondern einen „chronischen Zustand“, einen Zustand von einer „wahrscheinlich adrenalin-getriebenen, selbstverursachten Spannung, die über Jahre die Muskeln so verkrampfen ließ, dass diese allmählich verödeten und die Nerven beschädigten“. Diesen Zustand glaubt Parks jetzt überwunden zu haben; seine Leidenszeit sieht er im Nachhinein fast als Glücksfall. „Wäre ich nicht ein so großer Skeptiker, würde ich sagen, sie wurde mir vom Himmel geschickt, um mein Leben zu verändern.“ Das wird man womöglich auch dem neuen Buch anmerken, an dem Parks arbeitet: „Ich glaube, es wird große Veränderungen geben.“
Die Kunst stillzusitzen hat Parks, der an sich nicht zum Pathos neigt, all jenen gewidmet, „die mich aus dem Gefängnis befreit haben“. Neuen Dingen gegenüber, sagt er, sei er nun aufgeschlossener: „Ich bin bereit, zuzuhören.“ Ruhe und Gleichmut verliert er nur noch gelegentlich, etwa bei den Polemiken seines Kollegen und Lieblingsgegners Christopher Hitchens – oder beim Fußball. Nach wie vor kann er sich aufregen über die Fifa, die England stets benachteilige, und vor allem über das nicht gegebene englische Tor beim jüngsten Weltmeisterschaftsspiel gegen Deutschland. „Ich hasse die Deutschen nicht, aber ich bin immer glücklich, wenn sie verlieren“, sagt Parks, dessen Reise zum Seelenfrieden noch nicht beendet scheint: „England gegen Deutschland verlieren zu sehen – ich glaube, das ist die letzte Prüfung des Zen.“

Ein Engländer in Italien

Schriftsteller, Essayist. Übersetzer und Literaturkritiker; Tim Parks ist ein ausgesprochen vielseitiger Autor. Geboren wurde er 1954 in Manchester. Sein Vater war Pfarrer, beide Eltern bibeltreue Anglikaner. Parks studierte in Cambridge und Harvard. In Amerika verliebte er sich in eine Italienerin und zog mit ihr in ihre Heimat; seit 1981 lebt das Ehepaar in der Nähe von Verona und hat inzwischen drei Kinder. Parks‘ erster Roman Flammenzungen erschien 1985, weitere Werke waren Alle lieben Raymond (1989), Schicksal (2001), Doppelleben (2003), Stille (2006) und Das Geld der Medici. In Meine Saison mit Verona (2003) schildert Parks die Leiden eines Fußballfans, in Ein Haus im Veneto (1992) und Mein Leben im Veneto sinniert er über seine Wahlheimat Italien. Sein Roman Europa (1997) wurde für den renommierten Booker-Preis nominiert. Neben seiner schriftstellerischen Tätigkeit unterrichtet Tim Parks an der Universität in Mailand literarisches Übersetzen. Um seine Leidenschaft, das Kajakfahren, dreht sich der Roman Weißes Wasser (2005). Tim Parks‘ Buch Die Kunst stillzusitzen erscheint dieser Tage im Verlag Antje Kunstmann.

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