Ein Bus voller Narren auf großer Fahrt
Tim Parks liefert einen brillant-sarkastischen Beitrag zum Thema „Europa“
Von Inge Zenker-Baltes
Süddeutsche Zeitung, 28./29.11.1998
Wie im wirklichen Leben kommen auch in der Literatur echte Überraschungen meist aus dem Nichts, um sich dann einen festen Platz am eher dünn besiedelten intellektuellen Sternenhimmel zu erobern. Tim Parks‘ neuer, achter und wohl brillantester Roman Europa ist so ein Highlight in der humorarmen Literaturlandschaft. Ähnlich wie die Kolleginnen Donna Leon und Magdalen Nabb nutzt der in Verona lebende Engländer das farbige Ambiente des Gastlandes als Quelle multikultureller Inspiration. Sein Ich-Erzähler katapultiert ein solch spritziges Feuerwerk an inneren Qualen und äußerer Komik aus einem von Eifersucht umnebelten Hirn, daß die Lektüre uneingeschränktes Vergnügen bereitet.
Dabei wäre die dramaturgische Konstruktion des heißen Geschehens – spärliche Dialoge neben Satzungetümen, die gleich Riesenwogen Gedanken, Gefühle und Aktionen mit sich reißen – eigentlich lehrbuchhaft dazu ausersehen, aufkommender Spannung den Todesstoß zu versetzen. Nicht so bei Parks‘ feinem Gespür für subtile Dramatik. Des Protagonisten amüsante, mitunter auch deftige Reflexionen über Leidenschaft, Ehe und Treue, über Philosophie, Sex und Politik umranken den reizvollen Plot. Sogar einen Toten präsentiert das gewitzte Finale – und eine neue Version der uralten Frage, warum Frauen und Männer einfach nicht zusammenpassen, auch wenn sie es och so fieberhaft miteinander treiben.
In melancholische Erinnerungen an derartige Genüsse versunken sitzt Parks‘ Held Jeremy Marlowe, wie sein Schöpfer Universitätsdozent, im Bus von Mailand nach Straßburg, und das, obwohl er Busfahrten hasst wie Pest. Eine Petition in eigener Sache soll beim Europaparlament überreicht werden. Doch weder Solidarität gegenüber der Handvoll mitreisender Kollegen hat ihn zur Teilnahme bewogen, noch das Engagement für die Sache, nicht einmal die eher laue Lust auf die jungen Körper der zahlreichen, in der „Bumskutsche“ mitreisenden „fickbaren“ Studentinnen, die zusammen mit ihren Profs ein lockeres „carpe diem“ praktizieren und sich beim Abspielen des Videos vom Club der Toten Dichter tränenreich auf den Leitsatz „Liebe deinen Lehrer“ einstimmen lassen.
Jerry hadert mit seinem Leben.
Der Geheime Grund für Jerrys Reise wider Willen sitzt in der dritten Reihe, weit weg von seiner Rückbank und lockt mit dem ihm so vertrauten französischen Lachen – Jeremys ehemalige Geliebte. Just in dem Augenblick, als er seiner italienischen Frau die Affäre beichtete, war sie mit einem anderen, ausgerechnet deutschen Kollegen ins Bett gegangen.
Ein Bus voller Narren begibt sich da auf große Fahrt, Heuchler wie Gescheiterte fast aller europäischen Nationalitäten Zotig und sexistisch sind die Gespräche, hinter denen Verzweiflung und Resignation spürbar werden. Allein Jerry räsonniert einem verkorksten Leben hinterher, reflektiert in ausschweifenden Gedankengängen und Gefühlsergüssen seine zerstörte Ehe, den langweiligen, verführerisch gut bezahlten Job, das komplizierte Verhältnis zur heranwachsenden Tochter, eine verhaltene Lust auf flüchtige Affären, die obsessive Sehnsucht nach der immer noch angebeteten Französin Was könnte, so dachte und denkt der elegische Mittvierziger, innereuropäische Barrieren müheloser niederreißen als die Himmelsmacht Liebe?
In inneren Monologen analysiert er Reize und Gefahren dieses lausigen, verlogenen Unternehmens. Sein Wühlen in Erinnerungen zeitigt ähnliche Stimmungssalti wie der Genuß von Alkohol und gipfelt in der vermeintlichen Unfähigkeit, sich selbst zu ertragen. Auch über unberechenbare gruppendynamische Entwicklungen, letztlich über Gott und die Welt zermartert sich der gebildete Mann den Schädel und darüber, welche der „Tussis“ im Bus er flachlegen soll. Klar, daß alles ganz anders kommt.
Tim Parks‘ apart variierte Road Novel ist die sarkastische Story von mißtrauischen Einzelkämpfern, kollektiven und individuellen Traumen und kläglicher Altmännergeilheit auf Sextourismus – zugleich launig-ferkelige Illustration der Idee, ob es denn vermessen sei, Kulturen um des Genusses willen im platten Wortsinn einfach übereinanderzuschieben und so dem „Eurofick“ das Wort zu reden. Virtuos spielt der Autor auf der Klaviatur der Selbstverspottung und der Bitterkeit, er stilisiert Klischees um sie genüßlich wieder zu zerpflücken und jongliert latent mit Allegorien rund um Europa. Lockere Betrachtungen über Nietzsche, Spinoza, Platon sind ebenso bedeutungsschwanger wie die Frage, wer mit wem schläft und warum eigentlich nicht..