Rezensionen zu ‚Träume von Flüssen und Meeren‘

Bildnis eines Toten

Ein Roman wie ein Fluss: Tim Parks’ Porträt eines Anthropologen ist ein magisches, mäanderndes Vernetzungskunstwerk.

Die Zeit, 3.9.2008

Von Christian Seiler

Der Sarg ist auf eine Stahlkonstruktion montiert und mit gelben Blüten geschmückt. Die Schienen, auf denen er steht, zielen auf einen roten Vorhang. Dahinter warten die Flammen des Krematoriums. Helen James, die Frau der Hauptfigur dieses Romans, steht streng und aufrecht neben dem Sarg und verabschiedet sich von ihrem Mann Albert. Nur wenige Trauergäste haben sich in der Halle des ehemaligen evangelischen Militärfriedhofs von Delhi eingefunden. »Albert war mein Leben, mein Schicksal«, sagt Helen. »Und ich seins. Ich seins. Das ist die Wahrheit.«
Dann dreht sie sich abrupt um, drückt auf den in der Wand eingelassenen roten Knopf und setzt den Elektromotor in Gang, der den Sarg hinter den Vorhang befördert. Gelbe Blüten fallen zu Boden, die Besucher hören das Klicken der sich schließenden Ofentür. Die Hauptfigur beendet im Tosen des Ofens ihre physische Existenz. Wir befinden uns auf Seite 37 des neuen Romans von Tim Parks.

Tim Parks, geboren 1954 in Manchester, seit 1981 wohnhaft in Verona, ist ein Schriftsteller, der nie den einfachen Weg gegangen ist. Er probierte sich in seinen zahlreichen Büchern bereits als Reporter, Essayist und Kriminalschriftsteller aus, als Italienkenner, Übersetzer, Kunstkritiker, historischer Romancier und Thrillerautor. Aber noch nie hat er seine Hauptfigur bereits auf Seite 37 verschwinden lassen, sodass für den Rest des Romans ein ausgeklügeltes Spiegelkabinett schriftstellerischer Kunstfertigkeiten nötig ist, um das Bild entstehen zu lassen, das Parks vorschwebt.
Nie ist dem Buch die Anstrengung anzumerken, welche die komplizierte Konstruktion dem Autor bereitet haben muss. Im Gegenteil, die Spiegelungen, Irrlichter und Irritationen, die das Fehlen der Hauptperson verursacht, macht Träume von Flüssen und Meeren erst zu dem üppigen, magischen Roman, dessen überschäumende Qualitäten vor allem auf den Nebenfahrbahnen des Handlungshighways liegen. Parks selbst favorisiert eine solcherart mäandernde Lektüre: »Man hat mehr von einem Buch …, wenn man sich nicht ständig fragt, wie es ausgeht.«
Das Bild, das wir uns von dem abwesenden Helden machen, liegt ganz in der Hand dreier Figuren, die am Ausgang des Friedhofs aufeinandertreffen. Dies sind:
Erstens John. Er ist Alberts und Helens Sohn und trottet am Arm seiner Mutter aus dem Krematorium. John, der in London eine Karriere als Mikrobiologe begonnen hat, war nach der Todesnachricht sofort von London nach Delhi gereist. Er kam übermüdet und verwirrt an, und seine Verwirrung nahm in den Tagen vor der Beerdigung noch zu. Warum ist sein Vater so plötzlich gestorben? Wieso benimmt sich seine Mutter so seltsam? Was für komische Leute tummeln sich im Krematorium: Zoologen, Theosophen, Schauspieler? Und wieso gibt niemand eine Antwort auf seine Fragen?
Zweitens Paul Roberts. Er will die Biografie von Albert James schreiben, weshalb er plötzlich aus einem Taxi aussteigt und augenblicklich äußerst präsent ist. Noch am Friedhof versucht er Helen James dazu zu überreden, ihm Zugang zu den Dokumenten des Verstorbenen zu verschaffen, und man ahnt bereits die Durchsetzungskraft des schweren, schwitzenden Mannes.

Drittens Helen. Mit 53 Jahren ist Helen James noch immer eine attraktive, vitale Frau, doch sie behauptet, dass mit dem Tod ihres Mannes das Leben für sie vorbei sei – diese Behauptung löst der Autor später dramatisch ein. Helen ist Ärztin. Albert und sie verließen England, um in Kenia und Neuguinea Kliniken aufzubauen, in denen Helen die Kranken betreute und Albert das Labor und den Papierkram besorgte.
Als Albert nach einigen Jahren von der Biologie auf Anthropologie umsattelte, dann zu Kinetik, Proxemik und Kybernetik wechselte, zerbrach die Übereinkunft, die das Paar an-einandergeschweißt hatte. Wahrend Helen einfach denen helfen wollte, die darauf angewiesen waren, etablierte Albert seine berühmte Theorie der nichtmanipulativen Forschung. Diese besagt, dass jede bestehende Kultur klüger ist als ihre Möchtegern-Wohltäter.
Die Theorie machte Albert zum Star unter nonkonformistischen Intellektuellen. Gleichzeitig wurde Helen schwanger. John wuchs am Rand der beruflichen Verwirklichungen seiner Eltern auf, ging in englische Schulen und kehrte zum Studieren nach England zurück.
Helen und Albert blieben in Delhi. Die wimmelnde, aus den Nähten ihrer Kulturen platzende Stadt schien ihnen der richtige Ort für ihre unangepasste Lebensführung zu sein. Helen arbeitete unentgeltlich in der Klinik. Albert widmete sich seinen Forschungen. Er war zu dem Schluss gekommen, dass die Probleme der westlichen Welt mit zwanghaftem Gewinnstreben und unablässiger Manipulation der Menschen zusammenhinge. Er entwickelte Kommunikationstheorien, die das Verbale ausklammerten und nur auf Gesten, Posen, auf Assoziationen beruhten, und hörte folgerichtig auf zu publizieren. Seine Gedanken notierte Albert James an den Rand der Bücher, die er las. Sein Denken verbot ihm, andere zu beeinflussen. Es war nur logisch, dass er sich von diesen anderen entfernte, selbst von seinem Sohn und seiner Frau. Die Konsequenz seines Handelns zielt daher auf die Frage, ob er an der selbst gewählten Isolation zerbrach oder ob ihm der Tod die letzte Erfüllung, die logische Auflösung der komplizierten Stränge seiner Denkmuster war.
Im September 2008 schrieb Tim Parks im Guardian eine Eloge auf den Anthropologen Gregory Bateson. Bateson (1904 bis 1980), dessen Vater als Erfinder des Wortes »Genetik« gilt und der seinen Sohn zu Ehren des Erbforschers Gregor Mendel Gregory getauft hatte, imponierte Parks durch seine kühnen Überlegungen zum Verhältnis von Kunst, Sozialwissenschaft und Politik. Bateson hatte sein Studium der Zoologie bald zugunsten der noch relativ jungen Disziplin der Anthropologie aufgegeben und erweiterte sein wissenschaftliches Spektrum unablässig. Daraus entwickelt Parks quasi nebenbei die Poetologie seines Buches: »Abseits von aller politischen Schärfe kann eine Erzählung Kontemplation erzeugen und Respekt vor den geheimnisvollen Zusammenhängen der Welt, sie kann zu einer vorsichtigeren Handlungsweise führen und zu etwas weniger Begeisterung für dramatisches Eingreifen.«
Der Roman beginnt zu fließen wie ein Fluss, ein breiter Fluss. Die Richtung ist klar, sie führt dorthin, wo die Aufklärung des Todes von Albert James wartet, die Rolle seiner Frau und das Schicksal ihres Sohnes. Doch Parks begnügt sich nicht mit der Auflösung der offensichtlichen Fragen, es geht ihm um die geheimnisvollen Zusammenhänge, um das unsichtbare Netzwerk, in dem alle seine Figuren miteinander verbunden sind, meistens, ohne es zu wissen. Johns Freundin Elaine, die nach Indien reist, um ihrem Freund aus der Patsche zu helfen, verbringt plötzlich eine Nacht mir dem Biografen Paul Roberts, der wiederum in ein Verhältnis mit Helen James getaumelt ist, die wiederum mit dem theosophischen Sikh-Mediziner, der ihren Mann so verehrte, geschlafen hat, dessen Tochter in einer mitreißenden Szene der strengen Sikh-Familie entflieht und plötzlich auf dem Dach einer billigen Pension mit John gemeinsam frühstückt … und so weiter.
Hinter den erotischen Vernetzungen tauchen die intellektuellen auf, in zahlreichen Gesprächen, Briefen und E-Mail-Dialogen, in denen, oft nebenbei, Fragen von Medizin und Kult, von Bräuchen, Überzeugungen und Motiven verhandelt wenden, wobei – auch das keine Überraschung – immer wieder das Denken des Albert James berührt wird, das sich fortpflanzt wie ein Virus, unverstanden, aber umso wirksamer.
Parks erzählt diese Geschichten in seiner präzisen, distanzierten Sprache, die stets für ironische Pointen gut ist. Er behandelt seine Figuren höchst demokratisch: mit Abstand. Nur so kann sich auf allen Wegen und Umwegen das Konzept dieses Buches entfalten: die dynamische Abhängigkeit jeder Figur von jeder anderen. Parks will, dass jeder seiner Protagonisten so erscheint, wie er von jedem anderen Protagonisten gesehen wird, man kann ruhig sagen: »nichtmanipulativ«.
Es versteht sich von selbst, dass auch die fehlende Hauptfigur, Albert James, am Schluss in höchst unterschiedlichen Interpretationen Gestalt annimmt. Sein Biograf stellt Albert als bewundernswert dar, auch wenn er die Substanz dessen Denkens nicht erfasst – Missverständnis? Seine Frau Helen folgt dem intimen Charismatiker Albert in ihrer energischen Zuwendung bis ins Letzte – Liebe? Sein Sohn taumelt ziellos den vielen Schatten seines Vaters hinterher und kommt ihm dabei so nahe wie kein anderer – Methode?
In seinem Artikel über Gregory Bateson zitiert Tim Parks den Wissenschaftler selbst: »Unsere Arbeit sollte von einem uralten Motiv befeuert werden, das heute nicht mehr viel wert ist: Neugier auf die Welt, deren Teil wir sind. Das Ergebnis dieser Arbeit ist nicht Kraft, sondern Schönheit.« Das Ergebnis ist dieser beeindruckende Roman, der neugierig macht und voller Schönheit ist.

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